Der Historismus prägte die Architektur des 19. Jahrhunderts. Von ihm mussten sich neue Entwicklungen emanzipieren.
Auf die romantische Entdeckung des Mittelalters geht die Neugotik in Deutschland zurück – als früheste Form des Historismus seit den 1830er Jahren. Die Begeisterung für die gotische Architektur war in England im 18. Jahrhundert entstanden. Historisierend zu bauen war auch in den Jahrzehnten danach nicht nur Ausdruck der „Ehrfurcht vor der Geschichte“. Man betrachtete das Bewusstsein für vergangene Epochen als Quelle für die eigene Kunstfertigkeit in der Architektur. Angeprangert von den Protagonisten der Moderne erschienen die Stiladaptionen der Historisten im 20. Jahrhundert über lange Zeit als geistlose Nachahmungen.
Doch die Architektur des 19. Jahrhunderts hatte eigene Gesetzmäßigkeiten entwickelt. Sowohl das Entwerfen als auch die logistische Entwicklung machten riesige Sprünge. Techniken wie serielle Stein- und Metallgussverfahren erreichten industrielles Niveau. Immer größere urbane Bauaufgaben gingen mit den Anforderungen von Verkehr und Industrie einher. Die gerade erfundene Stahlund Glasarchitektur veränderte das Stadt- und Landschaftsbild. Türme, Brücken, „Kristallpaläste“, Passagen und Bahnhofshallen zeugen davon.
Tatsächlich war die Neo-Stil-Baukunst nur scheinbar rückwärtsgewandt. In der Vielfalt des Formenguts, in den Nutzungsbelangen sowie in der konstruktiven Erneuerung waren ihre Architekten erfindungsreich wie in allen Zeiten zuvor. Heute nimmt die Stilarchitektur des 19. Jahrhunderts in der Baugeschichtsforschung einen ebenso hohen Stellenwert ein wie die Zeugnisse der Moderne oder früherer Epochen.
„Man sieht das Nebeneinander von klassischen und mittelalterlich-romantischen Baugedanken […]. Zwei historische Stile wenden sich voneinander ab. Das ist ein weiterer Schritt auf der Bahn, die zum Nebeneinander aller erdenklichen Stile in der folgenden Periode führt.“
Fritz Schumacher, 1935 zur Architektur zwischen 1840 und 1870